Schienengebundene innerstädtische Logistik!

In vielen Berliner Bahnhöfen (z.B. Schönhauser Allee, Jannowitzbrücke, …) zeugen große Bilder von der Zeit der goldenen Zwanziger. Neben vielen spannenden Dingen, die es dort zu entdecken gibt, während man auf die immerpünktliche Bahn wartet, fasziniert insbesondere, dass im Vergleich zu Heute das Stadtbild nicht in allen Aspekten von Autos dominiert war! Aber wie kämen wir heute ohne Autos, Transporter, LKW, Taxis und Busse aus? Eine häufig übersehene mögliche Lösung wäre eine effektivere Nutzung der – zumindest in Berlin – überall vorhandenen Schieneninfrastruktur. Aber wie soll das genau gehen?

Zunächst einmal sei vorweg geschickt: Ich bin nicht vollkommen gegen die Nutzung von Bussen, Taxis, LKW usw. Allerdings nehme ich wahr, dass a) unser Straßenbild sehr stark von rollendem Blech geprägt ist und b) die räumliche Aufteilung des öffentlichen Raums sehr stark in Richtung Autos und LKW tendiert. Beides führt dazu, dass der öffentliche Raum weniger lebenswert wird und deutlich gefährlicher wird als er sein müsste. Aber was brauchen wir mit Blick auf Logistik eigentlich in einer Stadt?

Anforderungen an ein Logistikkonzept

Ein innerstädtisches Logistikkonzept für Fracht (Paletten bis LTL im B2B-Bereich) muss leider vielen Aspekten gleichzeitig genügen:

  • es muss in der Lage sein, eine große Menge an Gütern zu transportieren. Eine Stadt wie Berlin hat tagtäglich erstaunlich viel zu transportieren: Nahrungsmittel, Baumaterial, Pakete und Päckchen, Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe für Betriebe aller Art, Arzneimittel, Flachbildfernseher und vieles mehr.
  • der Transport darf nicht viel Zeit beanspruchen. Viele der Waren sind verderblich oder müssen gekühlt werden, andere werden tagesscharf benötigt und ein Transport, der zwei Wochen in Anspruch nimmt, passt einfach nicht mehr so ganz zum heutigen Zeitgeist.
  • er muss mit vielen unterschiedlichen Maßen zurecht kommen. Viele Güter passen sicherlich auf Europaletten, es wird aber sehr schnell schwierig, wenn ein Konzept nichts größeres zulässt.
  • die gesamte Versorgungskette muss kostengünstig aufgestellt sein. Logistik fügt einem Gut in der Regel keinen Wert mehr hinzu, erhöht also nur die Gesamtkosten. Mit ein Grund für den Erfolg der straßengebundenen Logistik sind sicherlich auch die geringen Kosten – insb. dadurch, dass kaum zusätzliche Assets beschafft und gepflegt werden müssen.
  • meistens wird zudem eine hohe Flexibilität erwartet: Viele Transporte stehen nicht schon Monate im voraus fest, sondern kommen erst Stunden bis Tage vor Transportbeginn zustande. Hin und wieder mag auch eine Änderung des Transportwegs notwendig oder gewünscht sein.
  • für die Akzeptanz eines Logistikkonzepts ist eine hohe räumliche Verfügbarkeit essentiell. Das bedeutet einerseits, dass sowohl eine geringe globale Abdeckung, andererseits aber auch eine geringe örtliche Zugänglichkeit (z.B. Lieferung oder Abholung nicht an die/von der Haustür) einen negativen Einfluss auf die Nutzung hat.
  • Zuletzt wird mittlerweise auch ein höheres Maß der Nachhaltigkeit gefordert. Während das in den 80ern noch kaum eine Rolle gespielt haben dürfte, rücken heute sowohl Umwelt und Klima als auch Beschäftigtenbedingungen stärker in den Vordergrund – auch wenn diese Anforderung im Vergleich zu Zeit, Menge und Preis noch eine sehr geringe Rolle spielen dürfte.

Im Speditionsbereich ist es gelungen, viele dieser Anforderungen gut zu erfüllen. Insbesondere durch Netzwerke wie der Online Systemlogistik ist es mittlerweile möglich, Paletten ad-hoc innerhalb von 12 Stunden zu geringen Preisen an einen beliebigen Ort in ganz Deutschland zustellen zu lassen. Bekanntlicherweise leiden darunter insbesondere die Bedingungen der LKW-Fahrenden und das Klima.

Dass das System Bahn an anderen Herausforderungen scheitert, ist kein Geheimnis. Aber was macht es der Bahn so schwierig?

aktuelle Herausforderungen der schienengebundenen Logistik

Zugegebermaßen war der Schienenverkehr nie für einen schnellen und flexiblen Stückguttransport konzipiert. Zwar wurden in Deutschland noch bis 1997 Briefe und Pakete mit der Bahn transportiert und während der Fahrt sortiert, der Transport beschränkt sich heute jedoch komplett auf Container, Trailer („rollende Landstraße“), Autos, Flüssigkeiten und Schüttgut – das jedoch alles lediglich im Überlandverkehr. Das System sieht sich dabei insbesondere mit vier Herausforderungen konfrontiert:

  • die erste Herausforderung ist der hohe Zeitbedarf. Während Logistikverbünde eine Zustellung innerhalb von 12-24 Stunden sicherstellen können, benötigt ein Transport auf der Schiene mit Vorlauf, Verladung, Rangieren, Transport, erneutem Rangieren, Entladung und Nachlauf gleich mehrere Tage. Insbesondere der Be- und Entladevorgang sowie das Rangieren bedeuten dabei nicht produktiv genutzte Zeiten.
  • die zweite Herausforderung ist die geringe räumliche Verfügbarkeit. Ein Be- und Entladevorgang benötigt einen Gleisanschluss und ein geeignetes Terminal. Meistens bedeutet das einen Vor- und Nachlauf auf der Straße. Aufgrund des Platzbedarfs ist der Betrieb eines Terminals in einer Innenstadt auch nicht vorstellbar.
  • als dritte Herausforderung stellt sich dem System Bahn derzeit die geringe Flexibilität: Ist ein Zug erstmal rangiert, lassen sich einzelne Bestandteile kaum noch anders routen. Eine innerstädtische Zustellung von Waren wäre in einem dicht befahrenen S-Bahn-Netz zudem schwer vorstellbar.
  • vierte Herausforderung ist der ausschließliche Transport großer Waren und Losgrößen. Kleinste Einheit im Zuge des Rangierens ist zwangsläufig ein kompletter Eisenbahnwagen, was für viele Firmen, Anwender und Privatmenschen jedoch selten zielführend ist.

Um mit einem Logistikkonzept Erfolg zu haben, müssen die eingangs erwähnten Anforderungen erfüllt werden, d.h. das System Bahn muss schneller und flexibler werden, überall verfügbar sein und den Transport kleinerer Einheiten ermöglichen. Doch welche Stellschrauben gibt es überhaupt dafür?

  • eine Stellschraube wäre eine Verkürzung der Züge, um mehr Direktverkehre anzubieten. Das würde Zeit und Flexibilität steigern, könnte jedoch sehr schnell ineffizient werden und die stark beanspruchten Trassen weiter auslasten.
  • Eine andere Möglichkeit wäre, Wagen zu verkleinern, um kleinere Transportgrößen zuzulassen. Das bis auf Paketgröße zu verringern, ist jedoch unrealistisch.
  • Zielführender könnte die Abstraktion der Plattform sein, also eine weitere – kleinere – Transporteinheit als Container zu schaffen, die den eigentlichen Inhalt befördert und auf Güterwagons transportiert wird. Das schafft jedoch eine neue Herausforderung der Containerdisposition und des Routings.
  • Immer hilfreich kann die Kombination mit einem anderen Verkehrsträger sein, um eine letzte Meile zu überbrücken. Das können Autos oder LKW (hier sicherlich eher in der elektrischen Variante), aber vielleicht auch Fahrräder o.ä. sein. Der Modalwechsel zwischen Schiene und Straße/Radweg/… benötigt jedoch Zeit und geeignete Ladepunkte, also zu wartende Infrastruktur.
  • Automatisierung könnte auch stets ein hilfreiches Mittel sein, sei es beispielsweise im Rangieren oder im Be- und Entladen.

Die Liste möglicher Stellhebel ließe sich sicherlich noch gut erweitern. Aus der Kombination unterschiedlicher Hebel ließen sich auch so schon mögliche Szenarien bilden, die gegen die Anforderungen geprüft werden können.

Ein mögliches Szenario: Schiene und Fahrrad im integrierten Modell

Seit Juni 2018 testen Kurierdienste in Berlin im Projekt KoMoDo die Zustellung von Paketen per Fahrrad auf der letzten Meile. Klingt nach einem alten Hut, schließlich liefert die Post Briefe schon seit Menschengedenken auf Fahrrädern aus. Neu ist allerdings die Größe der Lastenräder: Dank Elektro-Unterstützung ist es im Falle Hermes sogar möglich, einen Trailer zu nutzen, der auf dem Anhänger zwei kleine Container als Nutzlast ziehen kann. Die Container scheinen grob die Maße von Europaletten zu haben und können über Rollen auf die Fahrradanhänger geschoben werden. Hermes hat sich hier dem Größenproblem aus anderer Richtung angenommen: So wie die Bahn im Transport kleinere Containergrößen als ganze Wagons schaffen müsste, musste Hermes offenbar das Problem lösen, kleine Pakete zu größeren Containern zusammenzupacken.

Armadillo Cargobike von Hermes (Quelle: Hermes)

Hier wird es interessant: Wenn es möglich ist, zwei Container mit Paketen im Formfaktor zweier Europaletten zu transportieren, wäre ja auch der Transport anderer Lieferungen auf Europaletten oder vergleichbaren Ladungsträgern möglich, um die letzte Meile abzudecken und den Anforderungen einer räumlichen Verfügbarkeit gerecht zu werden. Dazu wäre vielleicht eine etwas stärkere Elektro-Unterstützung notwendig, aber auch das wäre ja eine technisch lösbare Frage. Ganz weit gedacht wäre es dann ja vielleicht auch möglich, den Anhänger etwas breiter zu gestalten und eine LD3-Box aus dem Flugverkehr (1,534m breit) auf einen Fahrradanhänger zu setzen. Wichtig wäre hierbei, eine günstige Form des Transportmittels zu wählen, um die Gesamtkosten des Transports niedrig zu halten.

LD3-Box aus dem Luftverkehr (Quelle: SEARATES)

Aber wie käme nun die Bahn ins Spiel? Während ein Transport solcher Boxen mit dem Fahrrad nur auf kurze Strecken effizient ist, wäre die Bahn ein guter Partner, um solche Container auch über weite Strecken transportieren zu können. Das Lichtraumprofil G2 mit einer Breite von 1,575m würde zulassen, dass auf einem Güterwagon exakt zwei solcher Container nebeneinander und eine größeren Anzahl an Containern hintereinander transportiert werden.

Lichtraumprofile G1 und G2 (Christian Lindecke, CC-BY-SA, Quelle: Wikipedia)

Um den Anforderungen Zeit und Kosten gerecht zu werden, wäre es notwendig, einerseits ein schnelles Be- und Entladen, andererseits ein schnelles zentrales Sortieren und Umladen solcher Boxen sicherzustellen. Dazu darf auch kein teures Terminal notwendig sein, da das die räumliche Verfügbarkeit hemmen würde. Denkbar wäre hier eine Möglichkeit, Güterwagen direkt innerstädtisch an einem Bahnhof oder Haltepunkt zu be- und entladen. Möglich wäre dazu ein ähnliches System wie es in Frachtflugzeugen genutzt wird, um Container manuell auf Güterwagons zu schieben und dort zu sichern. Vorstellbar wäre nun vielleicht, direkt im fließenden Schienenverkehr beispielsweise am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin kurz einen oder mehrere Güterwagen halten zu lassen und ein paar LD3-Boxen manuell zwischen Bahnsteig und Wagon zu tauschen. Während der Kurzzug direkt weiterfahren kann, könnten die entladenen Boxen im Anschluss auf Lastenräder verladen und an die Zieladresse gefahren werden. Von dort verladene Boxen könnten per Zug zu einem zentralen Hub gebracht, dort über Nacht sortiert und an den Zielbahnhof gebracht werden. Für eine Stadt der Größe Berlins würde es sich sicherlich anbieten, einige solcher Übergabepunkte zwischen Schiene und Fahrrad zu betreiben, die bis auf ein entsprechendes Rollensystem größtenteils techniklos und mit geringem Personaleinsatz auskämen.

Fracht in einer Boing 747 (Dtom, Gemeinfrei, Quelle: Wikipedia)

Ein alternatives Szenario: Gütertrams

Ein mögliches weiteres Konzept ist das der Gütertram. Auch diese Idee ist nicht sonderlich neu, sondern schon seit 1900 an unterschiedlichen Orten im Einsatz. Seitdem führt sie aber stets ein Nischendasein, vmtl. die Frage der kostengünstigen Übergabe zwischen Haupt- und Vor- bzw. Nachlauf nie geklärt wurde und die räumliche Verfügbarkeit nur bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle gegeben ist (bzw. die meisten Versuche wie beispielsweise die VW CarGoTram nur von Werk zu Werk fuhren).

VW CarGoTram in Dresden (Marco Präg, CC BY-SA 3.0, Quelle: Wikipedia)

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen: An ein innerstädtisches Logistikkonzept werden hohe Anforderungen gestellt bzw. eine Marktdurchdringung kann nur erfolgen, wenn die meisten dieser Anforderungen erfüllt sind. Die Bahn selbst ist systembedingt nicht in der Lage, alle diese Anforderungen zu erfüllen, während der straßengebundene Güterverkehr bis auf das Thema Nachhaltigkeit sehr gut abschneidet – ein Thema, das jedoch stets relevanter wird.

Gelänge es jedoch, ein Lastenrad zu konstruieren, das einen standardisierten und günstig herzustellenden Nutzlast-Container aufnehmen kann, wäre eine Kombination aus Bahn im Hauptlauf und Lastenrad im Vor- und Nachlauf durchaus in der Lage, alle Anforderungen an ein Logistikkonzept zu erfüllen. Voraussetzung dazu ist neben der Konstruktion des Lastenrads die Entwicklung einer kostengünstigen und schnellen Übergabemöglichkeit zwischen Schiene und Rad. Das könnte dann ggf. sogar an innerstädtischen Bahnhöfen geschehen.

Mit der Nutzung eines oder mehrerer zentraler Hubs, in denen Nutzlast-Container sortiert werden können, kann das zeitaufwändige Rangieren von Güterwagen entfallen, sodass zukünftig auch im Stückgutverkehr aus der Bahn somit ein konkurrenzfähiges Produkt zur Straße entstehen könnte!

Anmerkung 21.04.2021: Artikel um Spezifikationen ergänzt, dass hier ausschließlich von Fracht im B2B-Bereich und nicht von Paketpost die Rede ist.


Schreibe einen Kommentar